Kōan & Christentum

Unter einem Kōan versteht man im Zen-Buddhismus eine kurze Sentenz oder Handlung, die auf der Oberfläche (i.e. „exoterisch“) paradox, gar widersinnig, erscheinen mag, bei tieferer Mediationen jedoch oft eine tiefsinnigere (i.e. „esoterische“) Wahrheit offenbart. Das Kōan ist also nicht nur ein rein rhetorisches Stilmittel, etwa um durch eine vermeintlich abstruse Aussage die Aufmerksamkeit seiner Hörer zu erlangen, sondern auch eine wahrhafte Technik spiritueller Realisation, die den Schüler von Illusionen (Avidyāreinigen, und in ihm ein geistiges „Erwachen“ (Vidyā) zeitigen, soll.

 

Auch im Christentum ist eine solche „koanische“ Ausdrucksweise nicht unbekannt; so liebte es der Meister Eckhart, die Zuhörer seiner Predigten mit einer oberflächlich „häretischen“ Aussage zu schockieren, die sich in ihrem „esoterischen“ Sinn oft als vollkommen mit der Kirchenlehre deckend erwies. Einige dieser Kōans des Meisters finden wir dabei selbst unter den 28 Sentenzen, die von Johannes XII in seiner Bulle In agro dominico offiziell verdammt wurden; hier sei zwecks Exemplifizierung lediglich der erste Artikel angeführt, in dem es heißt:

 

„Einst befragt, warum Gott die Welt nicht früher erschaffen habe, gab er die Antwort, dass Gott nicht eher die Welt habe erschaffen können, weil er vorher nicht existiert habe.“

 

Nun, dies scheint nun wirklich nach einer Aussage, die geeignet ist, fromme Ohren zu schockieren; denn was soll dies auch heißen, Gott sei nicht gewesen vor der Schöpfung, oder ebenso, dass „zugegeben werden könne, dass die Welt von Ewigkeit her gewesen ist“ (2. Artikel, In agro dominico)? Doch bei genauerem Hinschauen ergibt sich, dass die ersten fünf der verdammten Sentenzen lediglich eine „koanische“ Weise sind zu sagen, dass es im nunc stans der ewigen Gottheit[1] schlicht kein „vorher“ und „nachher“ gibt, denn wie der Meister bemerkt: „wie könnte Er auch früher geschaffen haben, wo er die Welt doch im ewigen Jetzt, in dem Er Gott ist, schuf?“ [2].  Der Meister lehrt also lediglich was schon der hl. Augustinus[3] und der Aquinate vor ihm, wenn auch auf weit weniger spektakuläre Weise, herausgestellt haben, namentlich, dass „Himmel und Erde“ nicht in, sondern mit der Zeit geschaffen sind: „Qui vivit in aeternum creavit omnia simul" (Eccl. 18:1).

 

Man könnte in ähnlicher Weise für wohl viele der „problematischen“ Eckhart-Passagen verfahren, was allerdings den Rahmen dieser kurzen Notiz bei weitem überschreiten würde. Der Meister bedient sich also des Kōans, um bei seinen Hörern die Realisation zu wirken, dass Gott so hoch über dem Sein steht „wie der höchste Engel über einer Mücke“[4] und dass das, was man nicht von Gott sagt immer eigentlicher auf ihn zutreffe, als was man von ihm sagen kann, denn „waz man von gote sprichet, das enist niht wâr und waz man von ihm niht entsprichet, daz is wâr“[5]. Weit davon entfernt ein „Neuerer“ zu sein, wie viele heute gerne behaupten, steht Eckhart also fest in der apophatischen Tradition eines Dionysus Areopagita und gibt dem via negativa lediglich eine ganz eigene, „koanische“, Form des Ausdrucks.

 

Nachdem wir also kurz dargelegt haben, dass das Kōan dem Christentum durchaus nicht fremd ist, wollen wir uns nun der Frage zuwenden inwieweit auch Christus seinen Worten einen durchaus „koanischen“ Hintersinn beigefügt hat, steht es ja außer Frage, dass der Heiland sich mit Vorliebe auch der Rätsel-Rede bediente und viele seiner „exoterischen“ Wörter noch einen tieferen, „esoterischen“ Sinn in sich tragen; denn also spricht der Herr zu seinen Jüngern:

 

 „Ihr könnt die Geheimnisse des Reiches Gottes verstehen. Zu allen anderen rede ich in Gleichnissen, damit sie nichts erkennen, obwohl sie sehen können, und nichts verstehen, obwohl sie es hören“ (Lk. 8:10).

 

Beginnen wollen wir mit einer Stelle, die der trinitarischen Exegese stets große Sorgen bereitet hat; wir finden sie sowohl bei Markus (13:32), also auch bei Matthäus (24:36), wo der Heiland vom jüngsten Tage sagt:

 

„Von jenem Tag aber und jener Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel in den Himmeln, auch nicht der Sohn, sondern der Vater allein“.

 

Die meisten Exegeten (u.a. St. Athanasius, Gregor d. Große, Hilarius v. Poitiers etc.) haben sich damit begnügt zu behaupten, dieses „Unwissen“ des Sohnes sei hier lediglich als transitorisch zu verstehen und rühre aus den Limitationen, die die Menschwerdung, die Kenosis des Unendlichen ins Endliche, notwendigerweise einschließe; denn, so fragt auch St. Gregor v. Nazianz[6], wie könne denn die Quelle alles Wissens, die Weisheit selbst, irgendetwas nicht wissen und wäre dies ja wirklich ein „Rätsel“ (Kōan) zu nennen. Doch auch der Nazianzer schließt sich letztlich ebenfalls der „Inkarnations-Hypothese“ an und so müssen wir konstatieren, dass sich einzig der hl. Augustinus an des Rätsels Lösung angenähert zu haben scheint. Denn dieser lehrt uns, der Sohn sei lediglich „unwissend“ in dem Sinne, als dass er seine Zuhörer im Unwissen halten wollte, denn ist noch die Zeit nicht erfüllt wo „jener Tag und jene Stunde“ offenbar werden sollen, sagt er ja selbst in Apocalypsis (16:15): „Siehe, ich komme wie ein Dieb in der Nacht!“

 

Auch wenn der Heiland der Frage also gewissermaßen „ausweicht“, da es nicht an uns ist „jene Stunde“ zu kennen, enthält seine Antwort allerdings keinerlei Falschheit oder gar eine Negation der Trinität, wie manche wohl meinen, sondern, im Gegenteil, eine geradezu „koanische“ Affirmation derselben. Denn was heißt dies: nur der Vater, nicht aber der Sohn kenne „jenen Tag“, wenn nicht lediglich dieses: alles was der Sohn hat, hat er vom Vater und alles was der Vater hat, hat er im Sohn (Joh. 17:10; 16:15; 10:30; 7:16; 12:49 etc.pp.) und alles was der Vater weiß, weiß er im Sohne, seiner Weisheit, der Sohn aber „weiß“ gar nichts, er wird gewusst und ist das Wissen des Vaters von sich selbst; in den Worten des hl. Augustinus: „Der Vater weiß nichts, was der Sohn nicht auch weiß, denn sein Sohn, das Wort, ist seine Weisheit und seine Weisheit ist sein Wissen“[7].

 

Wir wollen uns eine weitere „koanische“ Stelle anschauen, die den Exegeten bisweilen viel Kopfzerbrechen bereitet hat; es ist dies die Episode mit dem reichen Jüngling, wie sie uns Markus (10:17-18) und Lukas (18:18-19) erzählen. Dieser, so lesen wir:

 

„… lief herzu, kniete, vor ihn und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn Gott allein[8].“

 

Nun, auch dieser Ausspruch ist natürlich einerseits in der vorangehenden Weise zu deuten: Einzig Gott kann „gut“ genannt werden, denn er ist das Gute selbst und alles was gut ist, ist dies einzig und allein qua Partizipation an der Güte Gottes, sowie auch das Wort seine Güte vom Vater hat, hat der Vater seine Güte ja im Wort, das die Güte selbst ist. Aber man könnte in diesem enigmatischen Worte durchaus noch einer anderen „koanischen“ Bedeutung nachspüren, denn wir mögen das „warum nennst du mich gut?“ des Heilands auch verstehen als: „warum nennst du mich gut, da du doch weißt das einzig Gott gut ist; wie hast du also erkannt, dass ich Gott bin?“. Fern davon die eigene Gottheit zu leugnen scheint sie auf "koanischem" Wege also grade affirmiert zu werden.

 

Die Frage warum der Heiland allerdings "in Rätseln und Gleichnissen" (Hes. 17:2) spricht, deutet auf ein Mysterium, dass man gemeinhin auch das „Messianische Geheimnis“ nennt; denn war die Zeit noch nicht gekommen, in der der Menschensohn sollte offenbar werden (u.a. Joh. 7:6), sondern sollte dies erst geschehen als er erhöht ward um alles an sich zu ziehen (Joh. 12:32), denn „er hat ihre Augen blind gemacht und ihr Herz hart, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen“ (Joh. 12:40) doch „als Jesus aber verherrlicht war, da wurde es ihnen bewusst“ (Joh. 12:16).

 

In den Worten des Heilands an den Jüngling liegt also die gleiche "koanische" Ambivalenz von "Ja" und "Nein" verborgen, die sich auch in der Antwort Christi auf die Frage des Kaiphas zeigt; denn als dieser ihn fragt ob er der Christus, der Sohn des Höchsten sei, erwidert der Heiland schlicht: „Du sagst es“; ein Wort, das sowohl Affirmation („Du sagst es!“) als auch Negation („Du sagst es!“; im Sinne von: „Du bist es, der dies behauptet!“) enthält, wobei der Hohepriester aber, im Gegensatz zum Jüngling, mit seinem Rabbiner-Witz das Kōan des Heilands direkt durchschaut, sodass das „Messianische Geheimnis“ nun endlich offenbar wird; denn als er dies hörte, da zerriss er seine Kleider und rief: „Er ist schuldig und muss sterben!“ (Mk. 14:63/4; Mat. 26:65) und „so sollte sich erfüllen, was Gott durch seinen Propheten angekündigt hatte: »Ich werde in Gleichnissen zu ihnen reden. Geheimnisse, die seit Weltbeginn verborgen waren, will ich ihnen enthüllen« (Mat. 13:35). 

 

 

 

 

 



[1] Die Eckhart’sche Distinktion zwischen „Gottheit“ und „Gott“, die für das volle Verständnis der betreffenden Passage durchaus nicht irrelevant ist, soll uns hier nicht weiter beschäftigen.

[2] vgl. Meister Eckhart, Expositio Libri Genesis.

[3] vgl. u.a. St. Augustinus, Confessiones, XII.

[4] Meister Eckhart, Predigt 9: Quasi stella matutina […]

[5] ders., Predigt 20: Homo quidam fecit [...]

[6] vgl. Gregor Nazianzen, 2. Oration.

[7] St. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Psalm 37.

[8] Manche Übersetzungen geben auch „… denn der einzige Gott“, was wiederum die Tür für eine Reihe weiterer „koanischer“ Interpretationen öffnet.